BIOACID II – Konsortium 2: Reaktion der benthischen Gemeinschaften auf interaktiven Stress

Leitung: Prof. Dr. Martin Wahl (GEOMAR, Kiel)

Die geographische Verteilung der Arten ist das Ergebnis der ökologischen und evolutionären (Anpassung, Nischen-Differenzierung), geologischen (z.B. Verteilungsbarrieren), ozeanographischen und klimatischen Einstellungen (z.B. Salzgehalt, Temperatur, Licht und deren Fluktuationen) (siehe auch: Kearney et al., 2010). Die Überlappung der Verteilungsflächen der Arten in einer Region bestimmen zusammen mit den Lebensraumbedingungen (Tiefe, Substrat, biotische Interaktionen) die Zusammensetzung der lokalen benthischen Lebensgemeinschaften. Schließlich bestimmen die Identitäten und relativen Häufigkeiten einer Spezies in einer Gemeinschaft die Ökosystem-Dienstleistungen, deren zeitliche Schwankungen und ebenso die Sensitivität der Gemeinschaft gegenüber Stress und Störungen (Wahl, 2009 und darin enthaltene Artikel).

Wenn sich die abiotische Einstellung im Zuge des Klimawandels verschiebt, ist zu erwarten, dass die Zusammensetzung und die Funktionsweise der lokalen Gemeinschaften sich ebenfalls ändert (siehe auch: Harley et al., 2006). In den kommenden Jahrzehnten werden sich viele Umgebungsvariablen gleichzeitig sowohl auf globaler Ebene (z.B. Temperatur, pH-Wert) als auch auf regionaler Ebene (z.B. Salzgehalt, Schichtung, Eutrophierung, Sauerstoffkonzentration) ändern. Darüber hinaus wird die Rate der Restrukturierung von Lebensgemeinschaften durch weitere Merkmale des globalen Wandels, wie Bioinvasionen, Überfischung, Umweltverschmutzung und küstennahe Bauvorhaben (siehe auch: IPCC 2007) beschleunigt.

Zahlreiche Studien haben die Auswirkungen der verschiedenen Stressoren auf einzelne Spezies gezeigt, aber der kombinierte Effekt von mehreren Variablen auf eine Multi-Spezies-Gemeinschaft – das natürliche Szenario – ist praktisch unerforscht (siehe auch: Wahl et al., 2011). Inwieweit die Vielfalt und biotische Interaktionen der Gemeinschaften die Auswirkungen modulieren, wird derzeit lebhaft diskutiert (siehe auch: Mooney et al., 2002; Raffaelli, 2006).

Die am weitesten verbreiteten und möglicherweise gravierendsten Auswirkungen des Klimawandels auf globalem Niveau werden von einem Anstieg der Temperatur und einer Abnahme des pH-Wertes (siehe auch: Kroeker et al., 2010) erwartet. Auf regionaler Ebene können jedoch auch andere Verlagerungen, wie das zunehmend intensivere und/oder häufigere Auftreten von Eutrophierung, Hyposalinität und Hypoxie, die Bedeutung der vorgenannten Faktoren einholen oder sogar übertreffen (siehe auch: BACC Autorenteam, 2010; Schernewski et al., 2011).

Der Mangel an Untersuchungen in nahezu natürlichen Szenarien (multiple Stressoren, Multi-Spezies-Gemeinden) schafft die unglückliche Situation, dass wir wissen, dass unsere marinen Lebensgemeinschaften sich ändern werden, jedoch nicht, in welche Richtung, in welchem Umfang und mit welchen funktionellen Konsequenzen. Folglich war die Motivation für dieses Konsortiums-Projekt die, unser Verständnis für die laufende und künftige Umstrukturierung eines wesentlichen Teils des marinen Ökosystems, der makrophyten Gemeinschaften, zu verbessern. Dieses Projekt wird sich auf die Auswirkungen der multifaktoriellen Szenarien des Klimawandels, auf die Struktur und das Funktionieren der Makrophyten-Gemeinschaften der Ostsee und der Nordsee, zusammengesetzt aus einem Metaorganismus (Makrophyten plus Aufwuchsorganismen) und den Verbrauchern, konzentrieren. Die Hauptspezies dieser Gemeinschaften sind das Seegras Zostera marina/Z. noltii, auf weichem Boden lebend, und die braune Makroalge Fucus vesiculosus, auf hartem Untergrund lebend. Seegras- und Blasentang-Gemeinschaften sind in beiden Meeren weit verbreitet und spielen eine wichtige ökologische und ökonomische Rolle als Primärproduzenten, Kohlenstoffsenken, Wasserfilter, Stabilisatoren von Sedimenten, Energiequellen für Mikroben und Pflanzenfresser, und ebenso als Anbieter von Untergrund und Infrastruktur für Aufwuchsorganismen und Jungfische (siehe auch: Mangi et al., 2011).

Allgemeine Zielsetzung

Wir beabsichtigen die direkten Auswirkungen der Einzel- und kombinierten Belastungen auf die Leistung der Makrophyten (Toleranzbreite, physiologische Plastizität, Überleben, Produktivität, Reproduktion) als auch auf ähnliche Messgrößen der damit verbundenen Tier- und Pflanzenwelt wie epibiotische Gemeinden (Bakterien, Diatomeen, Makro-Epibionten) und Verbraucher (Schnecken, Krebstiere) zu untersuchen.

Wir werden die Kapazität der Makroorganismen ermitteln, sich den zukünftigen Klimaszenarien durch phänotypische Plastizität und selektive Mortalität anzupassen, und wir werden prüfen, wie sich die mikrobiellen und makrobiellen Gemeinschaften unter Umweltstress neu strukturieren. Schließlich werden wir beurteilen, wie die genetische und/oder taxonomische Neuordnung auf dem Bevölkerungs- und Gemeinschaftsniveau die wesentlichen Leistungen der Gemeinschaft, wie Sauerstoffproduktion, Kohlenstoff-Fixierung, Produktivität, Aufnahme von Nährstoffen und mehr, beeinflussen.

So wird das Projekt übergreifend die biogeochemischen, genetischen, physiologischen, biologischen, ökologischen und wirtschaftlichen Aspekte betrachten und eine breite Palette von phylogenetischen Gruppen wie Bakterien, Kieselalgen, Bryozoen, Seepocken, Polychaeten, Krebstiere, verschiedenen Makroalgen und Seegras einschließen. Offensichtlich braucht eine solche Herausforderung ein breites Spektrum an Techniken und Kompetenzen. Diese kritische Masse wird durch das Clustering aller Teilprojekte und deren Doktoranden um eine Reihe von Kernexperimenten in den Benthokosmen-Einrichtungen in Kiel (Ostsee) und auf Sylt (Nordsee) erzielt werden.

Wir werden folgende Fragen stellen:

Wie beeinflussen die Umweltbelastungen

  • die Physiologie der Makrophyten?
  • die genetische Zusammensetzung der Makrophyten-Populationen und ihre Empfindlichkeit
  • gegenüber weiteren Belastungen?
  • die Interaktion zwischen Makrophyten und deren Aufwuchsorganismen und Verbraucher?
  • die Zusammensetzung und Funktionsweise epibiotisch bakterieller Gemeinschaften?
  • die Zusammensetzung und Funktionsweise mikroepiphytischer Gemeinschaften?
  • die Flüsse von Energie und Materie über die Makrophyten-Gemeinschaften?
  • die ökologische und ökonomische Bedeutung der Makrophyten-Gemeinschaften?

Forschungsansätze:

Die gesamte Forschung konzentriert sich auf eine Reihe von Kernexperimenten mit Makrophyten-Gemeinschaften in den Kieler und Sylter Benthokosmen. Die Kieler Infrastruktur besteht aus experimentellen Einheiten (4.000 Liter), teilbar in zwei Untereinheiten, die beide in jeder Hinsicht, mit Ausnahme der Temperatur, voneinander unabhängig sind. Eine ähnliche Anlage wird am Standort Sylt im Sommer 2012 errichtet werden. Wichtige Umweltvariablen wie Temperatur, pH-Wert, Sauerstoff und Salzgehalt, werden kontinuierlich aufgezeichnet und automatisch gesteuert. Zusätzliche Variablen wie Licht, pCO2, Nährstoffe, DOC, POC, Chl a, Alkalinität, DIC, werden „manuell“ überwacht und gesteuert (siehe AP 6).

Wir werden mehrere aufeinander folgende Versuche mit Zostera und Fucus, jeweils von drei bis vier Monaten Dauer, durchführen. Diese Zeitspanne erlaubt eine physiologische und genetische (selektive Mortalität von Rekruten) Reaktion der Makroorganismen, Neustrukturierung von mikrobiellen Gemeinschaften, und eine Neu-Funktionalität im Sinne der biotischen Verschiebungen und biogeochemischen Signale.

Die aufeinander folgenden Experimente ermöglichen es, die einzelnen und interaktiven Auswirkungen einer Vielzahl von möglichen Belastungen auf dem Arten- und kommunalen Niveau zu untersuchen. Da die Versauerung Bestandteil aller Versuche sein wird, erlaubt das Projekt auch die Beurteilung der relativen Bedeutung dieses Faktors im Vergleich zu anderen Aspekten des globalen Wandels (Erwärmung, Hyposalinität, Hypoxie, Eutrophierung). Da die verschiedenen Bestandteile der Gemeinschaften unterschiedliche Phasen ihres Lebenszyklus und verschiedene physiologische Zustände im Laufe eines Jahres durchlaufen, werden wir das erste Experiment (Versauerung x Erwärmung) in allen vier Jahreszeiten wiederholen.

Es ist wichtig, dass wir die natürlichen Schwankungen aller Umweltvariablen in Betracht ziehen und unsere Behandlungsfaktoren diesen überlagern. Wir arbeiten daher mit Delta-Operationen in allen Jahreszeiten, das heißt der Umgebungstemperatur der Kieler Förde sowie der vorhergesagten Temperaturerwärmung von 3-5°C bis zum Ende des Jahrhunderts (siehe auch: Schernewski et al., 2011) oder dem Umgebungs-pH-Wert der Ost- oder Nordsee (oder pCO2) minus (plus) der vorhergesagten Änderung für das Jahr 2100 (siehe auch: BACC Autorenteam, 2010). Eine mäßige Durchströmung mit ungefiltertem Meerwasser (ca. eine Nachfüllung pro Woche) schließt die Benthokosmos-Einheiten an die natürlichen Schwankungen der Nährstoff-, Salzgehalts-, oder Plankton- (einschließlich potenzieller Rekruten-) Zusammensetzung im angrenzenden Meer an. Zusammenfassend werden die „nicht-gestressten“ Behandlungen den in-situ-Bedingungen sehr ähnlich sein, während die „gestressten“ Behandlungen den in-situ Bedingungen zzgl. der für 2100 berechneten globalen Änderungswerte entsprechen werden.

Seegras-Gemeinschaften werden in erster Linie in den Sylter Benthokosmen untersucht werden, während die Fucus-Gemeinschaften hauptsächlich in den Kieler Benthokosmen untersucht werden. Dies spiegelt die Expertise der lokalen Gruppen und die relative regionale Bedeutung der beiden Makrophyten-Gruppen wider. Gleichzeitig werden an beiden Standorten vergleichende Versuche mit der primären Zielgruppe des anderen Standorts, das heißt Fucus auf Sylt und Zostera in Kiel ausgeführt, so dass die Auswirkungen der Stressbelastung zwischen den Populationen vergleichbar sind. Der experimentelle Ansatz dieses Konsortiums deckt damit die beiden großen Gruppen von Makrophyten (Algen und Seegras) und zwei große Lebensraumtypen (harter Boden und Sedimente) ab.

 

Benthokosmen-Kernexperimente (KE):

Vier große Kernexperimente werden ausgeführt:

  • (1) In einer ersten Phase kreuzen wir orthogonal die beiden Faktoren Versauerung und Erwärmung und untersuchen ihre Auswirkungen auf die Ostsee- und Nordsee-Gemeinschaften der Fucus, gefolgt vom gleichen Versuch in allen vier Jahreszeiten. Dieses Design ermöglicht die Entflechtung der Einzel- und interaktiven Stress-Wirkungen und den Einfluss der Jahreszeit. Auf Sylt wird die gleiche Behandlungskombination in Paralleltanks auf die Nordsee-Gemeinschaften der Zostera angewandt. Der Versuch wird dreifach wiederholt.
  • (2) Danach unterwerfen wir die Fucus-Gemeinschaften einer dreifachen Behandlung von Versauerung, Eutrophierung und Erwärmung, sowohl auf Sylt als auch in Kiel mit den jeweiligen Populationen. Dieses Experiment wird in einem „Klima-Simulations-Modus“ laufen, das heißt, wir kreuzen die drei Faktoren nicht orthogonal (aus Mangel an experimentellen Einheiten), sondern lassen einzelne Benthokosmen-Einheiten im Rahmen einer zukünftigen Klima-Einstellung bezüglich dieser drei Faktoren laufen. Dieser Ansatz ermöglicht die Bewertung der Auswirkungen eines komplexen globalen Wandels in zwei Jahreszeiten (Winter, Sommer) mit einem Replikationsfaktor von 6.
  • (3) In einem dritten Kernexperiment (eingelagert in Kernexperiment 2) wird der gleiche Versuch wie in Kernexperiment 2 mit Zostera Gemeinschaften im Frühjahr und Herbst (Kiel und Sylt) und im Sommer (Sylt) ausgeführt.
  • (4) Das letzte Experiment ist vergleichbar mit Kernexperiment 2, aber der dritte Faktor ist der vorhergesagte Rückgang des Salzgehaltes. Es läuft in einer Saison (Frühjahr), die nicht vom Kernexperiment 2 abgedeckt ist, und dauert einen Monat länger. Die Zielgemeinden sind Fucus (Kiel) und Zostera (Sylt). Der Wiederholungsfaktor ist 6.

Daten für alle APs werden regelmäßig aufgezeichnet (siehe AP-Beschreibungen). Zwei Wochen vor dem Ende eines Kernexperiments wird ein Impuls von ungünstigen Bedingungen (Hypoxie, Hitzewelle) angewandt, um einzuschätzen, wie die durch das simulierte Klima gestressten Gemeinschaften sich in ihrer Empfindlichkeit gegenüber einer zusätzlichen Störung relativ zu den unbelasteten Gemeinschaften unterscheiden.

Die Doktoranden der sechs APs werden eng bei diesen Kernexperimenten zusammenarbeiten und ihre sämtlichen Proben und Daten aus dem gleichen System beziehen. Dies gewährleistet eine maximale Vergleichbarkeit. Zusätzliche kleinere Experimente für ergänzende Fragen zum Kernexperiment werden im Labor oder den Klimakammern der Institute ausgeführt. Damit Aufwand und Kosten realistisch bleiben, führen die APs 1 und 6 vergleichende Arbeiten über Zostera und Fucus in Kiel und auf Sylt durch, AP 4 richtet großes Augenmerk auf Fucus (Kiel), jedoch nicht ohne Berücksichtigung von Zostera, und APs 2, 3 und 5 beschränken ihre Bemühungen auf die Kieler Kernexperimente mit Fucus.

Somit stellt AP 4 die Information bereit, wie und in welchem Ausmaß die Zielspezies (Fucus, Zostera) durch die experimentelle Behandlung beeinflusst werden. Das Zusammenspiel der frühen Lebensstufen-Stress-Sensitivität auf diese Szenarien und intraspezifische genetische Diversität wird innerhalb von AP 5 behandelt. Der Einfluss dieser physiologischen Reaktionen der Substratorganismen, die direkten Auswirkungen der Behandlung auf die Biofilme und der Interaktion zwischen den Biofilm-Komponenten wird durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den APs 2, 3 und 4 aufgezeigt. Die Ergebnisse dieser APs wird einen Großteil der Wechselwirkungsverschiebungen aus AP 1 erklären, die wiederum Einblick gibt auf die Wirkung des abiotischen Stresses, moduliert durch biotische Verschiebungen. Auf kommunaler Ebene werden letztendlich die Verschiebungsflüsse zwischen den Komponenten von AP 6 untersucht und somit die Quantifizierung der Wirkungsweisen im Hinblick auf die Ökosystem-Dienstleistungen. Der Mehrwert dieser engen und komplementären Zusammenarbeit auf gezielte Meta-Organismen in gemeinsamen Kernexperimenten ist somit ein vollständiges Bild der Reaktionen auf kommunaler Ebene auf Einzel- und interaktive Belastungen.
Alle in den APs erzielten Daten werden in zwei unabhängige Modellierungsansätze eingespeist. (1) Ein mechanistisches Gemeinschaftsmodell simuliert den Einfluss aller abiotischen und biotischen Wechselwirkungen von Fucus vesiculosus und die Auswirkungen der interagierenden Faktoren auf deren Leistung (Wachstum, maximale Tiefenverteilung). (2) Eine ökologische Netzwerk-Analyse wird die Ergebnisse für jede der behandelten Gemeinschafts-Module, die als experimentelle Einheiten verwendet wurden, synthetisieren. Dies ermöglicht einen Vergleich des Systemverhaltens von gestressten und ungestressten Systemen und zeigt Änderungen durch die Modifizierung spezifischer Systemindizes sowie die zyklische Struktur der Stoff- und Energieflüsse, insbesondere zwischen primären und sekundären Produzenten, an. Es erlaubt ebenfalls einen Vergleich der Bereitstellung von Ökosystemleistungen für jedes der analysierten Systeme und charakterisiert ihre globalen Systemeigenschaften.

 

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