Frühwarnsystem Arktis

Fallbeispiel

Das Nordpolarmeer ist schon heute von den Folgen des Klimawandels betroffen. Wie ein Frühwarnsystem zeigt es bereits einige Veränderungen, die andere Regionen in der Zukunft erleben könnten.

Luft- und Wassertemperaturen steigen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, und die durchschnittliche jährliche Ausbreitung des arktischen Meereises ist in den vergan­genen Jahrzehnten zurückgegangen. Aufgrund der noch immer vergleichsweise niedrigen Wassertemperaturen nehmen die eisfreien Gebiete des Nordpolarmeers mehr Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf und versauern stärker als wärmeres Wasser. Schon jetzt schwächen Ozean­versauerung und -erwärmung Organismen in verschiedenen Ebenen des Nahrungsnetzes.

Der Polardorsch Boreogadus saida ist einer der Hauptakteure im Ökosystem der Arktis. Er ist Beute größerer Fische sowie von Vögeln und Meeressäugern wie Robben und Walen. Polardorsche verbringen einen Teil ihres Lebens unter dem Meereis, wo sie sich von Zooplankton ernähren, das wie­­derum von Eisalgen lebt, die sich direkt unter dem Eis befinden. Aus diesem Grund kann der Rückgang des Meer­eises letztlich dazu führen, dass Polardorsch-Bestände schwinden.

Als hochspezialisierte Art hat sich der Polardorsch auf die relativ stabilen niedrigen Temperaturen und das knappe Nahrungsangebot des Nordpolarmeers eingestellt. BIOACID-Experimenten zufolge fällt es diesen Fischen schwer, ihren Stoffwechsel an eine wärmere Umgebung oder stark schwankende Temperaturen anzupassen. Daher sind sie gezwungen, sich in höhere Breiten zurückzuziehen – ihr Lebensraum schrumpft.

An der südlichen Grenze seines Verbreitungsgebiets, etwa in den Gewässern um Spitzbergen, steht der Polardorsch zunehmend im Wettbewerb mit seinem größeren, gefrä­ßi­geren Verwandten, dem Kabeljau Gadus morhua. Diese Art wandert aufgrund steigender Wassertemperaturen Richtung Norden. Sie ernährt sich nicht nur von Polardorsch und Lodde, sondern konkurriert auch direkt mit dem Polardorsch um Futter. Die Ozeanversauerung wird von beiden Arten ihren Tribut fordern, vor allem jedoch, indem sie die negativen Auswirkungen steigender Wassertemperaturen verstärkt. BIOACID-Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaftler haben festgestellt, dass beide Faktoren syner­gistisch zusammen­wirken und insbesondere die besonders empfindlichen frühen Lebensstadien des Polardorschs, die Überlebens­raten von Embryonen und Larven treffen.

Der Kabeljau profitiert derzeit noch von der Erwärmung an seiner nördlichen Verbreitungsgrenze. Doch ein Umwelt­modell, in das die Ergebnisse von ­BIOACID-Experimenten eingerechnet wurden, zeigt: Ozeanversauerung und -erwärmung werden den Nachwuchs der Kabeljau-Bestände in der Barentssee, einem Randmeer des Nordpolarmeeres, in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts deutlich dezimieren.

Um mit den Herausforderungen eines sich wandelnden Ozeans zurecht zu kommen, benötigen Meereslebewesen zusätzliche Energie. Darum untersuchen Forschende mit Hochdruck, wie sich die Zusammensetzung des Nahrungsnetzes und die Nährstoffverfügbarkeit verändern.

Die Flügelschnecke Limacina helicina ist eine wichtige Nahrungsquelle für viele marine Lebewesen – auch für den Polardorsch und den Kabeljau. Flügelschnecken, auch Seeschmetterlinge genannt, sind winzige schwimmende Schnecken mit einem Gehäuse aus Kalk. Ozeanversauerung und -erwärmung beeinträchtigen ihr Schalenwachstum und ihren Stoffwechsel, was ihren Nahrungswert als Beute reduzieren könnte. Feldstudien legen außerdem nahe, dass sich ihre Anzahl verringert. Diese Beobachtungen zeigen, dass Ozeanversauerung und -erwärmung einige wichtige Nahrungs­quellen negativ beeinflussen können und dies Konsequenzen für Organismen in höheren Ebenen des Nahrungsnetzes haben kann.

Da polare Arten an ein Leben mit niedrigem Energieumsatz gewöhnt sind, entwickeln sie sich vergleichsweise langsam und reagieren weniger flexibel auf Veränderungen in ihrem Lebensraum. Arten in wärmeren Gefilden sind dagegen an eine größere Bandbreite an Umweltbedingungen angepasst. Polare Ökosysteme sind besonders anfällig, selbst für geringe Umweltveränderungen, und bedürfen eines besonderen Schutzes.

Mehr über die BIOACID-Forschung in der Arktis in diesen Video-Porträts von Dr. Felix Mark und Dr. Silke Lischka.


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